Dass ich die Jubiläumsausgabe über die 100 km Distanz beim Röntgenlauf wirklich finishen kann, hätte ich nicht für möglich gehalten, war ich doch nur am Start, da ich mir schon vor Wochen vorgenommen hatte meinen Physio blind zu vertrauen und er meinte, es wäre an der Zeit es zu versuchen.
Aber von vorne. Eine Knieverletzung, die sich schon während der Wohnungsrenovierung zum Jahresanfang andeutete und beim 24-Stundenlauf am Seilersee ausbrach, war nicht wie erhofft nach einigen Tagen Geschichte. Im Gegenteil, ich konnte fast 3 Monate gar nicht laufen, sofern ich die drei nach 2-3 Kilometern abgebrochenen Versuche nicht mitzähle.
Wie so oft waren die Ärzte mit dem Thema komplett überfordert. (Auf dem MRT ist nichts zu erkennen und wir wissen nicht was die Ursache ist? Dann versuchen wir es einmal mit Diclofenac! Tabletten bringen nicht? Es gibt ja noch die Spritze ins Knie! Immer noch nicht besser? Oh! ). Nur gelegentliches Inlineskaten und Mountainbiken, für das ich bis dahin Radloser tief in die Tasche greifen musste, waren möglich.
Endlich hörte ich nach fast drei Monaten ohne Fortschritt auf den Rat mehrerer Kollegen, die mir den Physiotherapeuten Gerald Mexner nahelegten, der nebenbei bemerkt die deutschen Läufer bei internationalen 100 km oder 24 h Meisterschaften physiotherapeutisch betreut. Nur weil ich ihn schon aus der Jugend als Sportkollege kenne und man das Gute ja bekanntlich in der Ferne sucht, bin ich nicht schon vorher bei ihm gelandet. Ab da ging es, wenn auch in kleinen Schritten, voran. Nach nur wenigen Behandlungen sollte ich meinen ersten 2 km Lauf im 7er (!) Tempo absolvieren. Zu meiner Verwunderung funktionierte das. Außerdem bekam ich diverse Kräftigungsübungen als Hausaufgabe mit. Jeden zweiten Tag war eine „Laufeinheit“ angesagt. Das Skaten ließ ich sein, dafür fuhr ich im Schnitt einmal die Woche Rad (~35 km). Die Kilometerumfänge beim Laufen wurden langsam ausgebaut (wobei bei jeder zweiten Einheit einminütige schnellere Abschnitte alle fünf Minuten erlaubt waren). Jede Kilometersteigerung machte sich kurzfristig mit Knieschmerzen bemerkbar, und erst am 6. September standen erstmals wieder die 10 Kilometer auf der Uhr. Gerald zeigte mir auf, dass er fest an meine Teilnahme am Röntgenlauf glaube. Meine Bedenken bezüglich des Trainingsrückstands teilte er insoweit, dass er mir zustimmte, dass es wohl keine neue 100 km Bestzeit gebe. 😉
Die einminütigen Tempoabschnitte wurden durch ein-, später zweiminütige Bergauftempoläufe ersetzt, was erstaunlich gut funktionierte und das Herz-Kreislauf-System wieder etwas auf vordermann brachte. Das wechselte sich mit ruhigen, länger werdenen Einheiten ab und am 30. September, etwas weniger als 4 Wochen vor dem Lauf, waren es immerhin schon 14 Kilometer. Die ganze Zeit über wurde ich zwei- bis dreimal wöchentlich von Gerald bearbeitet.
Bis zum Starttag folgten neben einigen kürzeren Läufen als „lange Läufe“ ein 16, ein 25 und ein 26 Kilometerlauf. Das musste reichen!
Und so stand ich am Sonntag des Röntgenlaufs (25.10.15) um 1:45 auf, um rechtzeitig um 3 Uhr unter optimaler Ausnutzung der Zeitumstellung mit Startnummer an der Linie zu stehen. Da ich eigentlich fest davon ausging, dass der Lauf nicht funktionieren könne (es ist ja nicht so, dass alle Probleme weg waren/sind), war ich auffallend unnervös. Ich drehte sogar am ersten Autobahnkreuz, um das vergessene Frühstück noch zu holen.
Vor dem Start traf ich viele bekannte Laufkollegen, von denen ich so herzlich empfangen wurde, wie es wohl nur unter den Ultraläufern (und vielleicht noch den Zehnkämpfern) möglich ist. Ich finde es immer wieder bemerkenswert, wie viele tolle und interessante Menschen es unter den Ultraläufern gibt.
Am Vortag wurde auf Twitter noch überlegt, ob wir nicht eine gemütliche Twitterlaufgruppe bestehen aus @Pitztrailinchen, @thorstenfirlus, @jluen und mir (@jtinline) hinbekommen, was aber leider nicht funktionierte, da mir schon das Anfangstempo etwas zu schnell war. Ich hätte gerne mehr Worte als die kurze Vorstellung im echten Leben gewechselt, aber die Chance das nachzuholen ergibt sich hoffentlich noch.
Dafür bildete sich sehr schnell eine Dreiergruppe, die besser nicht hätte sein können. Ich durfte an der Seite der sehr erfahrenen Ultraläuerin Bettina Mecking und von Inga Preusser-Brandt laufen, deren DUV Statistik vom Umfang der meinigen ähnelt (ok, ok, ein paar Läufe weniger habe ich schon zu vermelden). Bettina kannte ich vorher schon, Inga lernte ich erst bei dem Rennen kennen. Aber als Team funktionierten wir sofort, als seien wir alte Bekannte mit vielen gemeinsamen Laufkilometern.
Die Jubiläumsausgabe ist in 5 Abschnitte unterteilt. Abschnitt 3 bis 5 entsprechen dem normalen Ultra des Röntgenlauf ohne die Lennepschleife nach dem Ultrastart. Die ersten beiden Abschnitte sind, anders als bei dem letzten 100er vor fünf Jahren, der letzte Abschnitt rückwärts und nach dem Wendepunkte am eigentlichen Marathonziel wieder zurück in Richtung Start.
Der erste Halbmarathon war trotz der Dunkelheit sehr kurzweilig und gut zu laufen. Allerdings hatte ich schon nach fünf Kilometern deutlich spürbare Schmerzen im Knie und rechnete bei linerarer Schmerzentwicklung hoch, dass der Ausstieg spätestens nach der Marathondistanz erfolgen müsse, was ja nach der Vorgeschichte auch schon ein kleiner Erfolg gewesen wäre. Ich hielt mich aber ganz brav an die Ratschläge meines Physios Gerald und dehnte das betroffene Bein an jedem VP (Verpflegungspunkt), wodurch ich nicht nur erreichte, dass die Schmerzen nicht schlimmer wurden, im Gegenteil, sie ließen sogar wieder etwas nach und zwar nachhaltig.
Nach 12 und 30 Kilometern gab es einen privat organisierten VP von Oliver Witzke, der ja in der Laufgemeinde kein Unbekannter ist. Dort bekam man im Gegensatz zum enttäuschenden offiziellen VP bei der Halbmarathonmarke, bei dem sogar das Wasser aus war, reichlich Verpflegung. Ich kann mein persönliches Dankeschön hier nur noch einmal wiederholen. Auch die geführchteten Anstiege nach der Wendemarke liefen/gingen sich noch recht einfach.
Im Startzielbereich nach fast einem Marathon machten wir einen Treffpunkt aus und wechselten in Ruhe die Laufklamotten. Nach einer 10 minütigen Pause ging es mit einem Puffer auf die Cutoff-Zeit auf den dritten Abschnitt. Diese Strecke ist bei der normalen Ultradistanz mein Lieblingsegment, da es überwiegend bergab geht und ich die Berge geanauso gut runter wie schlecht hoch komme. Mit einem Marathon in den Beinen und viel zu wenig Trainingskilometern sah das aber schon ganz anders aus. Und hier zeigte sich erstmals die wahre Stärke unserer netten Dreierrunde. Immer, wenn jemand durchhing, war mindestens einer da, der motivierte. Außerdem hatten wir Spaß bei gemeinsamen Gesangsaktionen (selten wurde die Ärzte so leidenschaftlich geschmettert) und bei der Prägung von Sätzen, die in die Laufgeschichtsbücher eingehen werden (Inga auf einem sehr verlassenen Stück: „Wir haben das Feld nach vorne und hinten abgehängt!“). Und bei meiner sechten Teilnahme am Röngenlauf machte ich zum ersten Mal einen Boxenstopp am Prosecco-VP.
Auf dem vierten Abschnitt wurde es richtig hart. Das ewige hoch und runter, rechts und links durch den immer gleich aussehenden Wald macht mich jedes mal total fertig (viele Röntgenläufer teilen die Erfahrung), da kann auch ein historisches Bauwerk wie die Müngstener Brücke nichts mehr rausreißen. Genau bei Kilometer 60 zitierte ich unter Berücksichtigung aller Quellenangaben den Spruch des ehemaligen TorTour-Siegers Markus Flick, der uns vorher schon überholt hatte („Die Mitte des 100 Kilometerlaufs ist bei Kilometer 60, aber die zweite Hälfte ist länger!“). Dieser Streckenabschnitt wollte nicht enden und inzwischen freuten wir uns über jeden Berg, denn bergauf heißt gehen. Das Wiederanlaufen wurde immer schwerer – der Puffer auf den Cutoff war auch nicht mehr ganz so groß.
Nach dem Durchgang am Schwimmbad auf den letzten Streckenabschnitt lief es auf einmal bei allen dreien, wir liefen sogar ein langes Bergaufstück. Der Puffer, den wir dort herausholten, war so groß, dass er bis ins Ziel reichte, und das, obwohl sowohl Inga als auch ich stehend K.o. waren. Bettinas Ultraerfahrung war hier deutlich zu spüren und so schafften wir gemeinsam in 14:10:10, 20 Minuten vor dem offiziellen Zielschluss, der wohl nachher noch um 30 Minuten verlängert wurde, ins Ziel.
Es war hart und es war klasse. Und ich bin froh, dass ich diese beiden menschlich so tollen Läuferinnen begleiten durfte. Ich weiß nicht ob ich ohne sie in der Lage gewesen wäre diesen Lauf zu beenden.
Nach dem Lauf war ich so fertig, wie ich es noch nicht erlebt habe. Ich bin abends beim Greifen der Wasserflasche eingeschlafen und zwei Stunden später, immer noch durstig, mit der Flasche in der Hand wieder aufgewacht (gut, dass das vor dem Öffnen des Deckels war).
Und das Knie? Ich merke es nach wie vor, aber nicht schlimmer als vor dem Lauf. Ich halte das für einen ganz wichtigen Schritt und danke meinem Physio, dass er mir das ermöglicht hat und vor allem, dass er mich motiviert hat es zu versuchen.
Jetzt glaube ich wieder fest daran, dass ich eine gute Chance habe, bis zur TorTour de Ruhr wieder richtig fit zu sein und diese zu finishen.
Bis demnächst auf der Strecke